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Text

Grube und Pendel

(Strich-Fassung der Artikulations-Sprech-Seh-Hör-Schau von
Cersten Jacob )

Übersetzung : Elisabeth Seidel

Mir war so elend - zum Sterben elend von dieser langen Qual ; und als sie endlich meine Bande lösten, als ich sitzen durfte, fühlte ich, daß mich meine Sinne verließen.

Das Urteil - dieses entsetzliche Todesurteil - war das letzte, was deutlich an mein Ohr drang. Danach schien der Klang der richterlichen Stimmen in ein traumhaft unbestimmtes Murmeln überzugehen. ...grave
...Ich sah die Lippen der schwarzgekleideten Richter. Mir schienen sie weiß - weißer als das Blatt, auf das ich diese Worte aufzeichne - und dünn bis zur Lächerlichkeit ; ganz dünn in dem angespannten Ausdruck ihrer Härte - ihrer unerschütterlichen Entschlossenheit - ihrer eisernen Nichtachtung menschlicher Leiden. Ich sah noch, wie der Beschluß über das, was mir Schicksal werden sollte, von diesen Lippen ausgesprochen wurde. Ich sah, wie sie sich zu todverkündender Rede verzogen. Ich sah, wie sie die Silben meines Namens formten. Und ich schauderte, weil sie keinen Laut hervorbrachten ...

... ich sah, daß mir von da keine Hilfe kommen würde. Und dann stahl sich mir wie ein herrlicher Klang von Musik der Gedanke in den Sinn, welch süße Ruhe im Grabe sein würde. Der Gedanke nahte behutsam und heimlich, und es muß wohl lange gedauert haben, bis ich ihn ganz begriffen hatte ; aber eben als mein Geist endlich dazu gelangt war, ihn recht eigentlich zu empfinden und zu nähren, verschwanden die Gestalten der Richter vor mir wie durch Zauberei ; die hohen Kerzen sanken in nichts zusammen ; ihre Flammen verloschen ; schwarze Finsternis herrschte ; alle Wahrnehmungen schienen verschlungen von einem rasenden Fall, als stürze die Seele in den Hades. Dann war die Welt Stille und Schweigen und Nacht.

Ganz plötzlich kehrten meiner Seele Bewegung und Ton zurück : die stürmische Bewegung des Herzens und in mein Ohr der Ton seines Schlagens. ...

... dann ganz plötzlich Gedanken und ein schaudernder Schrecken und ein ernsthafter Versuch, meinen tatsächlichen Zustand zu begreifen. Dann ein heftiges Verlangen, Besinnungslosigkeit zu versinken. Und nun ein volles Erinnern an das Verhör, an die Richter, an die düsteren Draperien, an den Urteilsspruch, an die Übelkeit, an die Ohnmacht. Alles, was darauf folgte, hatte ich vollständig vergessen ; erst später gelang es mir nach sehr heftigen Bemühungen, mich an all dies undeutlich zu erinnern.

Bis jetzt hatte ich meine Augen nicht geöffnet. Ich fühlte, daß ich ungefesselt auf dem Rücken lag. Ich streckte meine Hand aus, und sie fiel schwer auf etwas Feuchtes, Hartes. Dort ließ ich sie viele Minuten liegen, während ich mich bemühte, herauszufinden, wo und was es sein könnte. Ich sehnte mich, meine Augen zu gebrauchen, aber ich wagte es nicht. Ich fürchtete den ersten Blick auf die Dinge rund um mich. Nicht, daß ich gefürchtet hätte, Schreckliches zu sehen, sondern mir graute bei dem entsetzlichen Gedanken, gar nichts zu sehen. Endlich, eine wilde Verzweiflung im Herzen, schlug ich schnell meine Augen auf. Meine schlimmsten Vorstellungen wurden bestätigt. Die Schwärze ewiger Nacht umgab mich. Ich rang nach Atem. Die dichte Dunkelheit erdrückte und erstickte mich fast. ...

... Aber wo war ich, und in welchem Zustand befand ich mich? Die zum Tode Verurteilten, das wußte ich, kamen gewöhnlich bei Ketzerverbrennungen ums Leben, und eine solche war gerade in der Nacht vor meinem Urteilstag abgehalten worden. Wurde ich in meinem Kerker in Haft gehalten, um die nächste Verbrennung zu erwarten, die erst in vielen Monaten stattfinden würde ? Ich sah sogleich ein, daß dies nicht der Fall sein konnte. Nach Opfern wurde immer sofort verlangt. ...

... Ein furchtbarer Gedanke trieb mir plötzlich alles Blut zum Herzen, und für kurze Zeit sank ich erneut in Besinnungslosigkeit zurück. Als ich wieder zu mir kam, sprang ich sogleich auf die Füße, ein krampfhaftes Zittern in allen Gliedern. ...

... Ich fürchtete mich, einen Schritt zu tun, um nicht von den Wänden eines Grabes aufgehalten zu werden. Der Schweiß brach mir aus allen Poren und stand in großen kalten Tropfen auf meiner Stirn. Die Qual der Spannung wurde endlich unerträglich, und ich bewegte mich vorsichtig vorwärts, die Arme ausgestreckt, und die Augen traten mir aus den Höhlen, so strengte ich sie an in der Hoffnung, einen schwachen Lichtstrahl zu erspähen. Ich ging viele Schritte vorwärts ; aber noch war alles schwarz und leer.

Ich atmete freier. Offenbar hatte mich wenigstens nicht das grauenhafteste aller Schicksale ereilt. ...

Endlich stieß meine ausgestreckte Hand auf ein festes Hindernis. Es war eine Wand, offenbar steinernes Mauerwerk - sehr glatt, schleimig und kalt. Ich ging ihr nach und trat auf mit allem vorsichtigen Mißtrauen, das mir gewisse alte Berichte eingeflößt hatten. Dieses Verfahren jedoch erlaubte mir nicht, die Ausmaße meines Kerkers zu bestimmen, da ich ja die Runde machen und zu dem Punkt, von dem ich ausgegangen war, zurückkehren konnte, ohne dessen gewahr zu werden, so vollkommen gleichartig schien die Wand. Deshalb suchte ich nach dem Messer, das in meiner Tasche gewesen war, als ich in den Untersuchungssaal geführt wurde, aber es war fort. Meine Kleider waren gegen einen Rock von grobem Stoff vertauscht worden. Ich hatte daran gedacht, die Klinge in eine kleine Spalte im Mauerwerk zu treiben, um so den Punkt festzulegen, von dem ich ausging. ...

... Eine Weile war ich vorwärts gewankt, da stolperte ich und stürzte. Meine übergroße Müdigkeit überwältigte mich, so daß ich auf dem Boden liegenblieb ; und wie ich so lag, überkam mich rasch der Schlaf. Als ich aufwachte und einen Arm ausstreckte, fand ich neben mir einen Brotlaib und einen irdenen Krug mit Wasser. Ich war zu erschöpft, um über diesen Umstand nachzudenken, ich aß und trank nur gierig. ...

... Dann verließ ich die Mauer und beschloß, die Fläche des Raumes quer zu überschreiten.

Anfangs ging ich mit äußerster Vorsicht ; denn der Boden war zwar offensichtlich fest gefügt, aber wegen der Schlammschicht sehr gefährlich. Jedoch endlich faßte ich Mut und zögerte nicht mehr, fest aufzutreten, und so versuchte ich, in einer möglichst geraden Linie hinüberzukommen. Dabei war ich zehn bis zwölf Schritte vorwärts gegangen, als ich mich mit meinen Füßen in die Reste des zerrissenen Saumes verwickelte. Ich trat darauf und fiel heftig aufs Gesicht. In der Aufregung über meinen Sturz bemerkte ich nicht sogleich etwas einigermaßen Sonderbares, das jedoch meine Aufmerksamkeit ein paar Sekunden später erregte, während ich noch auf den Boden gestreckt lag. Es war dies, daß mein Kinn auf dem Kerkerboden lag, meine Lippen jedoch und der obere Teil meines Kopfes gar nichts berührten, obwohl sie doch allem Anschein nach tiefer lagen als das Kinn. Zugleich schien meine Stirn gebadet in einem feuchtkalten Dunst, und der eigentümliche Geruch von moderndem Schwamm stieg mir in die Nase. Ich streckte meinen Arm nach vorn und schauderte, als ich entdeckte, daß ich gerade am Rand einer runden Grube lag, deren Ausmaß ich natürlich im Augenblick nicht feststellen konnte. Ich tastete am Mauerwerk hin, dicht unter dem Rand, und es gelang mir, ein kleines Stück loszulösen und in den Abgrund fallen zu lassen. Ein paar Sekunden lang horchte ich auf seinen Schall, wie es beim Stürzen an die Seiten der Grube schlug, und endlich fiel es ins Wasser mit einem dumpfen Geräusch, dem laute Echos folgten. Im selben Augenblick vernahm ich einen Laut wie das schnelle Öffnen und eilige Schließen einer Tür über mir, und ein schwacher Lichtschimmer schoß plötzlich durchs Dunkel und verschwand ebenso plötzlich wieder. Klar sah ich das Schicksal, das mir bestimmt gewesen und gratulierte mir selber zu dem Zufall, durch den ihm rechtzeitig entronnen war. Noch ein Schritt, ehe ich stürzte, und die Welt hätte mich nicht mehr gesehen. Und die Art des Todes, dem ich eben entgangen war, entsprach genau dem, was ich in den Geschichten über die Inquisition immer für ungeheuerlich und leichtfertig übertrieben gehalten hatte. Den Opfern ihrer Tyrannei blieb die Wahl zwischen einem Tod mit gräßlichen körperlichen Qualen oder einem unter den schaurigsten seelischen Schrecken. Mir war der letztere bestimmt. Das lange Leiden hatte meine Nerven geschwächt, so daß ich beim Ton meiner eigenen Stimme zusammenfuhr, und in jeder Hinsicht war ich nun ein geeignetes Opfer der Matter geworden, die mich erwartete.

An allen Gliedern zitternd, tastete ich mich zur Wand zurück - entschlossen, eher dort umzukommen, als mich zu den Schrecken jener vielen Gruben zu wagen, die meine Phantasie sich überall im Kerker vorstellte. In einer anderen Geistesverfassung hätte ich wohl den Mut gehabt, meinem Unglück sogleich ein Ende zu machen und mich in eine dieser Gruben zu stürzen ; jetzt aber war ich ein jämmerlicher Feigling. Ich konnte auch nicht vergessen, was ich über diese Gruben gelesen hatte - nämlich, daß es nicht ihre grausige Bestimmung war, das Leben plötzlich auszulöschen.

Überlegungen hielten mich viele Stunden lang wach ; aber endlich schlief ich wieder ein. Als ich erwachte, fand ich neben mir wie zuvor einen Laib Brot und einen irdenen Krug mit Wasser. Ein brennender Durst quälte mich, und , ich leerte das Gefäß auf einen Zug. Es mußte ein Schlafmittel darin gewesen sein ; denn kaum hatte ich getrunken, da überfiel mich eine unwiderstehliche Müdigkeit. Ich sank in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf. Wie lange er währte, weiß ich natürlich nicht ; aber als ich meine Augen wieder öffnete, waren die Dinge um mich her sichtbar. Ein abenteuerlicher, schwefelfarbener Glanz, dessen Ursprung ich nicht sogleich entdecken konnte, machte es mir möglich, Größe und Aussehen meines Gefängnisses zu überblicken. In seiner Größe hatte ich mich gewaltig getäuscht. Die ganze Mauerrundung betrug nicht mehr als fünfzig Schritt.

...

Im allgemeinen war der Kerker rechteckig. Was ich für Mauerwerk gehalten schien Eisen zu sein. ... Die ganze Oberfläche dieser Metallwände war kunstlos beschmiert mit lauter widerlichen und abstoßenden Zeichnungen, die dem Totenaberglauben der Mönche entsprungen waren. Die Gestalten von Unholden mit drohenden Gesten, Skelette und andere noch furchtbarere Bilder bedeckten und verunstalteten die Wände. ...

In der Mitte gähnte der runde Abgrund, dessen Rachen ich entronnen war ; aber er war der einzige im Kerker. ...

... Ich lag nun auf dem Rücken ausgestreckt , auf einer Art niedrigem Holzgestell. Daran war ich mit einem langen Riemen festgebunden, der aussah wie der Gott eines Priesterrocks. Er schlang sich in vielen Windungen um meine Glieder und meinen Körper und ließ nur meinen Kopf und meinen linken Arm so weit frei, daß ich mich unter großer Kraftanstrengung mit Essen aus einer irdenen Schüssel versorgen konnte, die neben mir auf dem Boden stand. Zu meinem Schrecken sah ich, daß der irdene Krug weggenommen worden war. Zu meinem Schrecken, sage ich ; denn ein unerträglicher Durst quälte mich. Diesen Durst schienen meine Peiniger absichtlich erregen zu wollen ; denn das Essen in der Schüssel war scharf gewürztes Fleisch.

Ich sah nach oben und überblickte die Decke meines Gefängnisses. Sie war etwa dreißig bis vierzig Fuß hoch und fast so gebaut wie die Wände. In einem ihrer Felder fesselte eine sonderbare Figur meine ganze Aufmerksamkeit. Es war eine gezeichnete Gestalt der Zeit, wie sie gewöhnlich dargestellt wird, nur hielt sie statt der Sense etwas, was ich beim flüchtigen Hinsehen für das gemalte Bild eines großen Pendels hielt, wie man es an alten Uhren findet. Doch etwas an der Mechanik dieses Pendels veranlaßte mich, es aufmerksamer zu betrachten. Während ich so unmittelbar aufwärts und darauf blickte (denn es war genau über mir angebracht) , glaubte ich zu sehen, daß es sich bewegte. Einen Augenblick später wurde die Einbildung bestätigt. Sein Schwingen war kurz und natürlich langsam. Ein paar Minuten lang beobachtete ich es etwas ängstlich, aber mehr noch verwundert. Endlich wurde ich es müde, seiner langweiligen Bewegung zuzusehen, und wandte meinen Blick anderen Gegenständen in der Zelle zu.

Ein schwaches Geräusch lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich, und als ich auf den Boden sah, gewahrte ich mehrere gewaltige Ratten, die darüberhinliefen. Sie waren aus der Grube herausgekommen, die zur Rechten gerade in meinem Blickfeld lag. Selbst jetzt noch, während ich hinsah, kamen sie in Scharen herauf, eilig, mit gierigen Augen, angelockt vom Geruch des Fleisches, und es kostete viel Mühe und Aufmerksamkeit, sie davon wegzuscheuchen. Eine halbe Stunde, vielleicht sogar eine Stunde mochten verflossen sein ( ich konnte mir von der Zeit nur einen ungenauen Begriff machen ), bis ich wieder einen Blick nach oben warf. Was ich nun sah, verwirrte und wunderte mich. Das Schwingen des Pendels hatte in seinem Ausmaß fast um einen Meter zugenommen. Infolgedessen war natürlich auch seine Geschwindigkeit viel größer geworden. Aber vor allem störte es mich, daß ich mir einbildete, es habe sich merklich gesenkt. Ich sah nun - unnötig zu sagen, mit welchem Schrecken -, daß sein unteres Ende aus blitzendem Stahl , wie ein Halbmond geformt war, etwa ein Fuß in der Länge , von Horn zu Horn ; die Hörner waren nach oben gebogen, und der untere Rand war offenbar scharf wie eine Klinge. Auch schien es wie eine Klinge dick und schwer, und von der Schneide lief es nach oben in ein breites, festes Gefüge. Es war an einem schweren Metallstab befestigt, und das Ganze pfiff, wie es so die Luft durchschnitt.

Ich konnte nicht länger darüber im Zweifel sein, welches . Schicksal mir mönchische Erfindungsgabe im Foltern zugedacht hatte. Die Diener der Inquisition hatten bemerkt, daß ich von der Grube wußte - jener Grube, deren Schrecken man für mich kühnen Ketzer bestimmt hatte -, jener Grube, die das Sinnbild der Hölle war und von den Gerüchten für die schlimmste all ihrer Strafen gehalten wurde. Durch einen bloßen Zufall hatte ich den Sturz in diese Grube vermieden, und ich wußte, daß Überraschung und Überlistung der Opfer einen wichtigen Bestandteil all dieser ungeheuerlichen Foltermorde bildeten. Da ich den Sturz vermieden hatte, war es ihr teuflischer Plan also nicht mehr, mich in die Grube zu treiben. Nun wartete meiner eine andere und mildere Vernichtung. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Milder ! Ich lächelte halb in meiner Qual, als ich diesen Begriff hier gebrauchte.

Was hilft es, von den langen, langen Stunden übermenschlichen Entsetzens zu erzählen, in denen ich die raschen Schwingungen des Stahls zählte ! Millimeter um Millimeter - man konnte es nur in Abständen feststellen, die wie Jahre schienen - sank er tiefer und immer tiefer. Tage vergingen - vielleicht vergingen viele Tage, ehe er so dicht über mir schwebte, daß er mir seinen beißenden Atem zufächelte. Der Geruch des scharfen Stahls drängte mir entgegen. Ich betete - ich machte den Himmel müde mit meinen Gebeten, er möge schnell herabsinken. Ich wurde fast wahnsinnig und quälte mich, um mich dem Schwingen der furchtbaren gekrümmten Schneide entgegenzuheben. Und dann wurde ich plötzlich ruhig und lag da und lächelte über den blitzenden Tod wie ein Kind über ein kostbares Spielzeug.

Wieder verfiel ich für kurze Zeit in völlige Bewußtlosigkeit ; es währte nicht lange, denn als ich wieder zur Besinnung kam, hatte sich das Pendel nicht wahrnehmbar gesenkt. Aber es kann auch lange gedauert haben - ich wußte ja, daß Teufel meine Ohnmacht erspähten und die Schwingungen nach Belieben aufhielten. Und während ich zu mir kam, fühlte ich mich doch sehr - nein ! unaussprechlich elend und schwach wie durch lange Entkräftung. Und selbst unter den Qualen dieses Augenblicks verlangte die menschliche Natur nach Nahrung. Unter qualvollen Anstrengungen streckte ich den linken Arm so weit aus, wie meine Bande es erlaubten, und nahm mir die kleinen Reste, die die Ratten übriggelassen hatten. Als ich ein Stück davon zwischen die Lippen schob, schoß mir ein noch nicht geformter Gedanke der Freude - der Hoffnung durch den Kopf. Und doch was konnte ich noch für Hoffnung hegen? Wie gesagt, es war ein halbgedachter Gedanke - wie man sie oft hat, ohne sie je zu Ende zu denken. Ich fühlte, daß er Freude und Hoffnung bedeutete ; aber ich fühlte auch, daß er sich verlor, während ich versuchte, ihn zu entwickeln. Das lange Leiden hatte all meine normalen Geisteskräfte fast zerstört. Ich war ein Narr - ein Verrückter.

Das Pendel schwang im rechten Winkel zu meiner Lage. Ich sah, daß die Sichel die Herzgegend durchschneiden sollte. Sie würde den Stoff meines Kleides schlitzen würde wiederkehren und ihr Werk wiederholen - wieder und wieder. Wenn auch ihr Schwung ungeheuer weit war (einige dreißig Fuß oder noch mehr) und wenn sie auch mit einer zischenden Gewalt niedersauste, die genügt hätte, selbst diese Eisenwände zu zerschneiden, würde sie doch viele Minuten lang nichts weiter tun als mein Gewand zerreißen. Und bei diesem Gedanken hielt ich inne. Ich wagte es nicht, über diese Uberlegung hinauszugehen. Ich blieb dabei mit einer Beharrlichkeit, als ob ich den Stahl hindern könnte, noch tiefer Zu sinken, indem ich da verharrte. Ich zwang mich, über das Geräusch des Halbmondes nachzudenken, wenn er über das Gewand hingehen würde, über die merkwürdig spannende und erregende Wirkung, die die Reibung von Stoff auf die Nerven hat.

Ich dachte nach über all diese Nichtigkeiten, bis es mir darüber in allen Fingerspitzen kribbelte.

Tiefer - unablässig tiefer sank es. Es machte mir einen teuflischen Spaß, seine Abwärtsbewegung mit seiner waagerechten Geschwindigkeit zu vergleichen. Nach rechts - nach links - weit - weit - mit dem Kreischen einer verdammten Seele ; immer weiter auf mein Herz zu mit dem schleichenden Schritt eines Tigers. Ich lachte und weinte abwechselnd, je nachdem das eine oder das andere Gefühl eben mächtiger war.

Tiefer - unbeirrbar, unablässig tiefer ! Es schwang nun vielleicht drei Zoll über meiner Brust ! Ich mühte mich heftig, ja verzweifelt, meinen linken Arm frei zu machen. Er war nur vom Ellbogen bis zur Hand frei. Mit der Hand konnte ich unter großer Mühe von der Schüssel bis zu meinem Mund reichen, aber weiter nicht. Hätte ich den Riemen überm Ellbogen lösen können, dann hätte ich das Pendel gefaßt und anzuhalten versucht. Aber ebensogut hätte ich wohl versuchen können, eine Lawine aufzuhalten ! Tiefer - immer noch unaufhörlich - , unausweichbar tiefer. Bei jeder Schwingung keuchte und mühte ich mich. Bei jeder Schwingung zuckte ich krampfhaft zusammen. Meine Augen folgten seinem Auswärts- oder Aufwärtspendeln mit dem Eifer sinnloser Verzweiflung. Sie schlossen sich hastig, wenn es niedersank, und doch wäre mir der Tod eine Erlösung gewesen - oh, wie sehnte ich mich danach ! Aber jeder Nerv in mir bebte bei dem Gedanken, um wie wenig das Instrument sich nur noch zu senken brauchte, um mit seiner scharfen, funkelnden Sichel meine Brust zu durchschneiden. Die Hoffnung war es, die den Nerven einflüsterte, so zu beben - die dem Körper befahl zu zittern. Die Hoffnung war es - die Hoffnung, die über die Folter triumphiert -, die dem zum Tode Verdammten noch in den Kerkern der Inquisition Mut zuspricht.

Ich bedachte, daß nach etwa zehn oder zwölf Schwingungen der Stahl mein Gewand unmittelbar berühren würde, und bei dieser Uberlegung überkam meinen Geist plötzlich die ganze wache, gesammelte Ruhe der Verzweiflung. Zum ersten Male seit vielen Stunden - oder Tagen vielleicht - dachte ich. Es fiel mir jetzt auf, daß das Band oder der Gurt, der mich umschloß, der einzige war. Ich war nicht mit einem besonderen Strick angebunden. Der erste Schnitt des klingengleichen Halbmondes schräg über ein Stück der Fessel würde sie so loslösen, daß ich sie mit Hilfe meiner linken Hand von meinem Körper losbinden könnte. Aber wie furchtbar wäre dann der nahe Stahl ! Wie tödlich die geringste Bewegung ! Und überdies hatten die Diener meiner Peiniger diese Möglichkeit ja höchstwahrscheinlich vorausgesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Würde wohl die Fessel da über meine Brust laufen, wo das Pendel schwang ? In der Angst, meine schwache und scheinbar letzte Hoffnung vereitelt zu finden, hob ich meinen Kopf so weit, daß ich meine Brust deutlich sehen konnte. Die Fessel umschnürte meine Glieder und meinen Körper dicht in allen Richtungen, nur da nicht, wo die tödliche Sichel pendelte.

Kaum hatte ich meinen Kopf zurücksinken lassen, da fiel mir etwas ein : es war nichts anderes als die vage Hälfte jener Befreiungsidee, von der ich schon vorhin sprach und deren Anfang mir nur unklar in den Sinn gekommen war, als ich das Essen zu meinen brennenden Lippen führte. Nun war der ganze Gedanke da - schwach, unklar, unbestimmt, aber. doch ganz.

Mit der zitternden Kraft der Verzweiflung machte ich mich sofort daran, seine Ausführung zu versuchen. Viele Stunden lang drängten sich die Ratten förmlich in unmittelbarer Nähe des niederen Gestells, auf dem ich lag. Sie waren wild, dreist und gierig - ihre roten Augen funkelten mich geradezu an, als warteten sie nur darauf, daß ich mich nicht mehr bewege, um über mich herzufallen. An was für Futter mögen sie in der Grube gewöhnt sein ? dachte ich.

Trotz all meiner Mühe, sie daran zu hindern, hatten sie von dem Inhalt der Schüssel alles vertilgt bis auf einen kleinen Rest. Ich hatte mich daran gewöhnt, mit der Hand über die Schüssel hin und her zu fahren, und endlich verlor die unbewußte Einförmigkeit der Bewegung ihre Wirkung. Die Untiere schlugen in ihrer Gefräßigkeit ein paarmal ihre scharfen Zähne in meine Finger. Mit den fettigen, gewürzten Fleischstückchen, die noch übrig waren, rieb ich nun den Riemen gründlich ein, wo ich ihn nur erreichen konnte ; dann hob ich meine Hand vom Boden und lag reglos still.

Die Veränderung erschreckte die gierigen Tiere ; sie waren bestürzt, daß die Bewegung aufgehört hatte. Aufgeregt schraken sie zurück : viele suchten ihre Zuflucht in der Grube. Aber das war nur ein Augenblick. Ich hatte nicht umsonst mit ihrer Gefräßigkeit gerechnet. Als sie bemerkten, daß ich reglos lag, sprangen zwei oder drei von den frechsten auf das Gestell und rochen an dem Gurt. Dies schien das Zeichen für einen allgemeinen Ansturm. In neuen Trupps kamen sie aus der Grube. Sie kletterten aufs Holz, rannten darüber hin und sprangen zu Hunderten auf meinen Körper. Die abgemessene Bewegung des Pendels störte sie ganz und gar nicht. Sie wichen seiner Bewegung aus und machten sich an der eingefetteten Fessel zu schaffen. In immer größeren Haufen bedrängten und umschwärmten sie mich. Sie krochen um meinen Hals ; ihre kalten Lippen suchten nach den meinen ; ich wurde halb erstickt unter ihrem drängenden Druck ; ein Abscheu, für den es keine Worte gibt, übermannte mich und ließ mir das Herz zu Eis erstarren. Doch ich fühlte : eine Minute noch, dann war der Kampf vorbei. Ich bemerkte ganz deutlich, wie das Band sich lockerte. Ich wußte, daß es schon an mehr als einer Stelle durchtrennt sein mußte. Mit einer übermenschlichen Entschlossenheit hielt ich still.

Ich hatte mich in meinen Berechnungen auch nicht geirrt und nicht umsonst ausgehalten. Ich fühlte schließlich, daß ich frei war. Der Gurt hing mir in Stücken vom Leibe. Aber der Schlag des Pendels drängte schon zu meiner Brust. Es hatte den Stoff meines Gewandes zerrissen. Es hatte das Linnen darunter zerschnitten. Zweimal schwang es noch, dann zuckte mir ein scharfer Schmerz durch jeden Nerv. Aber der Augenblick der Flucht war gekommen. Eine Handbewegung, und meine Befreier hasteten überstürzt davon. Mit einer stetigen Bewegung - vorsichtig, behutsam und langsam glitt ich seitwärts aus der Umarmung der Fessel und aus der Reichweite der Klinge. Für den Augenblick wenigstens war ich frei !

Frei ! - in den Klauen der Inquisition und frei ! - Kaum war ich von meinem hölzernen Schreckensbett auf den Steinboden des Kerkers getreten, als die Bewegung der höllischen Maschine aufhörte und ich sah, wie sie von einer unsichtbaren Hand zur Decke hochgezogen wurde. Dies war eine Lehre, die ich mir sehr zu Herzen nahm. Jede meiner Bewegungen wurde überwacht, das stand außer Zweifel. Frei ! Ich war nur einer Form der Todesqual entronnen und würde einer anderen werden, die noch schlimmer war als der Tod selber. Mit diesem Gedanken ließ ich meine Blicke erregt an den Eisenwänden umherstreifen, die mich umgaben. Etwas Ungewöhnliches, eine Veränderung, die ich anfangs nicht deutlich wahrnehmen konnte, war offensichtlich in dem Raum vor sich gegangen. In unklarer und zitternder Zerstreutheit quälte ich mich viele Minuten lang mit abgerissenen Gedanken. Indessen gewahrte ich zum ersten Male den Ursprung schwefelfarbenen Lichts, das das Gewölbe beleuchtete.

Es entsprang einem Spalt von einem Zentimeter Breite, der rund um den ganzen Kerker lief, und zwar am Fuß der Wände, die auf diese Weise völlig vom Boden getrennt schienen, und das waren sie auch. Ich versuchte, durch die Öffnung zu sehen, aber natürlich vergebens.

Als ich mich von diesem Versuch erhob, brach die Erkenntnis dessen, was das Zimmer so geheimnisvoll veränderte, plötzlich über mich herein. Ich sagte schon, daß die Umrißlinien der Figuren an den Wänden wohl recht deutlich waren, die Farben aber verwischt und unbestimmt schienen. Diese Farben nun nahmen von Augenblick zu Augenblick einen immer erschreckenderen und außerordentlich durchdringenden, starken Glanz an, und dieser Glanz gab den gespenstischen, teuflischen Bildern ein Aussehen, das selbst stärkere Nerven als die meinen wohl hätte erschüttern können. Dämonenaugen von wildem, grausigem Feuer starrten mich von allen Seiten an, aus tausend Richtungen, wo man vorher keine gesehen hatte, und sie leuchteten in einem so unheimlichen, feurigen Glanz, daß ich mich nicht zu der Vorstellung zwingen konnte, dies Feuer sei kein wirkliches.

Kein wirkliches ! - Mir stieg ja sogar beim Atmen ein Hauch vom Dampf erhitzten Eisens in die Nase. Eine stickige Luft drang in den Kerker. Das Glühen der Augen, die auf meine Qualen starrten, wurde stärker mit jedem Augenblick. In immer tieferes Rot waren die gezeichneten blutigen Schreckensbilder getaucht. Ich keuchte ! Ich rang nach Atem  ! Nun gab es keinen Zweifel mehr über den Plan meiner Peiniger - oh, diese Unmenschen -, diese vom Teufel Besessenen !

Ich wich vor dem glühenden Metall zurück in die Mitte des Kerkers.

Als ich an den Feuertod dachte, der mir drohte, senkte sich die Vorstellung von der Kühle der Grube wie Balsam auf meine Seele. Ich eilte zu ihrem tödlichen Rand und starrte angestrengt nach unten. Der Glanz der erleuchteten Decke erhellte die innersten Schlupfwinkel der Grube, und doch weigerte sich mein Geist einen wirren Augenblick lang, den Sinn dessen zu erfassen, was ich sah. Endlich erzwang, erkämpfte es sich den Weg in meine Seele - es brannte sich in meinen schaudernden Verstand ein. Ach - keine Stimme kann es aussprechen - oh, Schrecken - oh, jeden Schrecken - nur diesen nicht ! Mit einem Schrei wich ich vom Rand zurück, vergrub mein Gesicht in beide Hände und weinte bitterlich.

Die Hitze wuchs schnell, und noch einmal sah ich auf und bebte in fiebrigen Schauern. Noch eine Veränderung war in der Zelle vor sich gegangen, und nun hatte sich offensichtlich die Form verändert. Vergebens - wie zuvor - versuchte ich anfangs, zu sehen oder zu verstehen, was geschah. Aber ich wurde nicht lange im Zweifel darüber gelassen. Mein zweimaliges Entkommen hatte die Rache der Inquisition noch angestachelt, und nun wurde es Ernst mit dem König aller Schrecken !

Der Raum war rechtwinklig gewesen, nun sah ich, daß zwei seiner Eisenwinkel spitz waren und zwei infolgedessen stumpf. Diese entsetzliche Veränderung nahm schnell zu mit einem leise rollenden oder stöhnenden Geräusch. In einem Augenblick hatte der Raum die Form eines Rhombus angenommen, aber dabei hielt die Verwandlung nicht an - ich hoffte und wünschte auch nicht mehr, daß sie anhalten möge. Ich hätte die roten Wände ans Herz schließen mögen als das Gewand eines ewigen Friedens. " Sterben !" rief ich, "sterben, nur nicht in der Grube!"

Ich Narr ! Sah ich nicht, daß das glühende Eisen mich eben in die Grube treiben wollte ? Konnte ich seinem Glühen widerstehen ? Oder wenn auch das, konnte ich seinem Druck standhalten ? Flacher und flacher wurde jetzt der Rhombus mit einer Geschwindigkeit, die mir keine Zeit ließ nachzudenken. Seine Mitte und natürlich seine größte Weite stand gerade über der gähnenden Grube. Ich schrak zurück - aber die Wände, die sich schlossen, drängten mich widerstandslos vorwärts. Endlich blieb meinem verbrannten, gekrümmten Körper kein Fußbreit mehr auf dem festen Boden des Kerkers. Ich kämpfte nicht mehr, aber die Qual meiner Seele befreite sich in einem lauten, langen, letzten Schrei der Verzweiflung. Ich fühlte, daß ich auf dem Rand wankte ich wandte meine Augen ab.

Da - ein mißtönendes Gewirr von Menschenstimmen ! Ein lautes Blasen wie von vielen Trompeten, ein schweres Dröhnen wie von tausend Donnern ! Schnell schoben sich die Feuerwände zurück. Ein ausgestreckter Arm ergriff den meinen, als ich im Begriff war, bewußtlos in die Grube zu stürzen. Es war General Lasalle. Die französische Armee war in Toledo eingerückt., Die Inquisition war in den Händen der Gegner.

 

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